LIMBURG/FREIBURG.- Die Armutswochen der Caritas lenken den Blick auf die Themen Wohnungslosigkeit, Verschuldung und Armut. Jessica Magnus, Referentin für Soziale Sicherung beim Caritasverband für die Diözese Limburg e.V. hat mit einem Betroffenen gesprochen. Markus W. (Name geändert) ist seit zwei Jahren wohnungslos. Er hat auf der Straße oder in Parkhäusern geschlafen, bis er in einer Notunterkunft in Hessen untergekommen ist. Im Interview erzählt der arbeitslose 49-Jährige auch von seiner Suchterkrankung, von Schulden und seiner ständigen Sorge, wie es weitergeht. Ein Lichtblick: Sozialarbeiter, die ihn unterstützen, ihn ernst nehmen und ein offenes Ohr für ihn haben.
Magnus: Danke, dass Sie sich bereit erklärt haben, mit mir dieses Gespräch zu führen. Wie geht es Ihnen heute? Können Sie Ihre aktuelle Lage beschreiben?
M.W.: Ja, aufgrund der Hilfe und Unterstützung, die ich bekomme, geht es mir schon viel besser. Meine Vergangenheit holt mich jedoch immer wieder ein. Der Schatten ist noch immer da. Was wird noch kommen? Wie lange soll ich noch warten? Diese Fragen beschäftigen mich immer wieder. Ich bin noch immer arbeitslos und kann nichts machen. Das ist nicht schön.
Magnus: Können Sie uns etwas genauer von den Umständen berichten, die zu Ihrer Obdachlosigkeit geführt haben? Wie haben Sie die Zeit damals empfunden?
M.W.: Ich habe damals zur Untermiete gewohnt. In meiner Wohnung habe ich oft laute Musik gehört. Die Lautstärke, die Lärmbelästigung und zusätzlich mein Trinken – das waren die Gründe für meinen Rausschmiss. Zumindest hat man mir deutlich gemacht, dass ich ausziehen soll. Danach war ich fast zwei Jahre lang obdachlos. Diese Zeit war sehr belastend für mich. Ich habe auf der Straße gelebt, gelegentlich bei Freunden übernachtet, oftmals aber auch im Parkhaus oder über einem Lüftungsschacht geschlafen.
Magnus: Das muss eine sehr harte und belastende Zeit für Sie gewesen sein. Was hat Ihnen damals geholfen?
M.W.: Ich hatte Kontakt zu Michael, einem Sozialarbeiter der Caritas-Wohnungslosenhilfe. Er hat mir damals sehr geholfen. Er hat dafür gesorgt, dass ich über die Wohnungslosenhilfe eine Postanschrift bekam. Dadurch habe ich regelmäßig mein Geld vom Amt erhalten. Er war immer wieder für mich da und hat mich dazu motiviert, bei der Stadt vorzusprechen und die städtische Notunterkunft in Anspruch zu nehmen. Zu Beginn war das Leben in der Einrichtung schlimm für mich. Mittlerweile fühle ich mich dort sehr wohl. Eine eigene Wohnung möchte ich trotzdem gerne haben (lacht).
Magnus: Sie haben auch, wie Sie vorab erzählt haben, Schulden.
M.W.: Ja, mit den Schulden ist das so eine Sache. Sie verfolgen mich tagtäglich, seit ich davon weiß. Als ich den Brief mit der Forderung öffnete, fühlte sich das wie ein Faustschlag an. Mir gingen tausende Gedanken durch den Kopf. Muss ich ins Gefängnis? Was soll ich machen? Bis zu dem Zeitpunkt als ich den Brief des Inkassobüros erhielt, dachte ich, ich sei schuldenfrei.
Magnus: Wie kommt es, dass Sie lange nichts von Ihren Schulden wussten? Um welche Summe handelt es sich denn?
M.W.: Oh Gott, dass weiß ich nicht so genau (lacht). Aber eine Sozialarbeiterin hat mal mit mir eine Forderung von ursprünglich 112,23 Euro aus dem Jahr 1999 ermittelt. Inzwischen sind das wohl mit Mahngebühren und Zinsen mehr als 900 Euro. Und es gibt noch eine zweite Forderung aus der Zeit, ähnlich hoch. Ich habe die Forderungen lange als erledigt betrachtet. Sie liegen auch schon sehr lange zurück – das ist ja schon 20 Jahre her.
Magnus: Wie gehen Sie damit um, welche Gefühle löst die Schuldensituation bei Ihnen aus? Inzwischen ist ja ein Vielfaches der ursprünglichen Summe zusammengekommen.
M.W.: Ich habe es schlicht und einfach verdrängt mit der Zeit, vielleicht auch vergessen. Wie gesagt: Die Forderungen waren für mich eigentlich erledigt. Ich habe letztlich auch nie Ersparnisse gehabt. Meine Situation habe ich zu lange laufen lassen und mich auch nie wirklich schlau gemacht, welche Möglichkeiten der Beratung und Unterstützung es gibt.
Magnus: Sie haben mir im Vorgespräch berichtet, dass es für Sie seit dem ersten Brief des Inkassobüros belastend ist, wenn Post für Sie angekommen ist. Können Sie das genauer beschreiben?
M.W.: Keine Post ist gute Post (lacht). Wenn ich keine Post bekomme, bin ich erleichtert. Ich rechne immer damit, dass von irgendwoher eine neue Rechnung, eine Mahnung oder Behördenschreiben kommt, von dem ich nichts weiß. Mit meinem Geld komme ich eigentlich gut zurecht. Es ist zwar knapp, aber ich schaffe es über die Runden zu kommen. Schulden kann ich davon aber keine abbezahlen. Das ist unmöglich. Ich verdränge auch viele meiner Probleme und versuche zu vergessen. Doch irgendwo in meinem Kopf weiß ich, dass da noch was kommt. Ganz weg sind die Gedanken nie. Meine Alkoholsucht macht die Sache nicht leichter.
Magnus: Was würde Ihnen das Leben denn leichter machen?
M.W.: Gesundheit und eine Arbeitsstelle. Beides ist für mich im Moment weit weg. Ich habe in den letzten Jahren immer wieder starke Schmerzen, bedingt durch einen Unfall. Das macht mir das Leben schwer.
Magnus: Zu Beginn des Interviews sagten Sie, dass Sie sich heute viel besser fühlen als damals zu der Zeit als Sie auf der Straße lebten. Welche Hilfen trugen Ihrer Meinung dazu bei? Welche Unterstützungsangebote helfen Ihnen noch heute?
M.W.: Ich bin froh, dass es Angebote wie das der Caritas-Wohnungslosenhilfe und Menschen wie Michael gibt. Dort ist immer jemand für mich da und hilft mir. Wenn ich die Menschen hier nicht hätte, wäre das eine Katastrophe für mich. So kann ich auch meine Alkoholsucht in Schach halten. Wenigstens manchmal. Die Menschen dort geben mir das Gefühl, erwachsen zu sein. Sie nehmen mich ernst. Hier fühle ich mich nicht dumm. Sobald wir gemeinsam meine Anliegen klären konnten, war oft für ein paar Wochen Ruhe. Das war für mich eine Befreiung im Kopf – von der ewigen Frage: „Was jetzt?“.
Magnus: Wie sieht für Sie persönlich eine glückliche Zukunft aus? Wenn Sie einen Moment träumen dürften, was wünschen Sie sich?
M.W.: In der aktuellen Corona-Pandemie wünsche ich mir, dass das Virus gebannt werden kann und wir wieder Normalität erleben können. Das Virus schränkt meine Bewegungsfreiheit ein und macht mir im Alltag zu schaffen. Darüber hinaus hätte ich gerne eine kleine Wohnung und würde gerne mit meinem Kumpel Musik machen. Ich würde gerne meinen Führerschein wieder haben und arbeiten gehen. Dass die, die mir geholfen haben, die Anerkennung kriegen, die sie verdienen. Und ich würde mir wünschen, dass es mir gesundheitlich etwas besser geht. Das würde mir schon reichen. Ich brauche keinen Reichtum.
Interview mit den begleitenden Caritas-Sozialarbeitern Michael Friedrich und Jascha Frenz:
Magnus: Wie fühlt sich das für Sie an, wenn einer Ihrer Klienten im Kontext Ihrer Arbeit von einer „Befreiung im Kopf“ spricht?
Friedrich: Ich nehme diese Befreiung ebenfalls wahr. Ich realisiere die Anspannung, wenn einer unserer Klienten mit einem Schreiben zu uns kommt. Oftmals sind diese Behördenschreiben in einer Sprache verfasst, die nur sehr schwer verständlich ist. Die Zusammenhänge sind oft unklar, Schulden haben ihren Ursprung oft weit in der Vergangenheit. Wenn ein Schreiben bearbeitet wird, dann ist es vom Tisch. Dann folgt Erleichterung und das Eis ist gebrochen. Die Erleichterung spüren auch wir in der Beratungsarbeit. Wir fragen uns aber gleichzeitig: Wie geht es weiter? Das System besteht aus Gläubigern, Inkassobüros und Mahnverfahren. In den meisten Fällen zieht sich so ein Verfahren lange hin. Uns ist es wichtig, den Hilfesuchenden das Gefühl zu geben: Ihr seid nicht alleine, wir sind für euch da und stehen euch unterstützend zur Seite.
Magnus: Wie gehen die Menschen mit den Schulden und den Forderungen um?
Friedrich: Landläufig gibt es die Überzeugung und das Vorurteil, dass verschuldete Menschen nicht an ihrer Schuldenproblematik interessiert seien. Gegenteiliges erlebe ich in meiner täglichen Arbeit als Sozialarbeiter. Ich stelle fest: Die Mehrheit unserer Klienten beschäftigt ihre Schuldensituation sehr und sie sind sehr daran interessiert, einen Umgang damit zu finden. Oftmals erleben wir, dass die Schuldenlast um ein Vielfaches höher ist, als die ursprüngliche Forderung. Da muss man sich fragen, ob das in Ordnung ist. Das System der Inkassoverfahren muss kritisch geprüft werden. Ausufernde Anwalts- und Gerichtskosten sowie hohe Mahngebühren treiben die eigentliche Schuldenlast in vielen Fällen in astronomische Höhen und all das signalisiert den Schuldnerinnen und Schuldnern: Das wirst du niemals bezahlen können.
Magnus: Können die Schuldnerinnen und Schuldner ja auch kaum, oder?
Frenz: Ja, man muss sich dabei vergegenwärtigen: Wir haben es in den meisten Fällen mit Transferleistungsbeziehern zu tun, denen ein Regelbedarf von aktuell 432 Euro zur Verfügung steht. In einer solchen Lebenssituation ist es absolut unrealistisch, Schulden abzubezahlen. Ein regelrechter Teufelskreis, in dem sich viele unserer Klienten befinden.
Das Statement des Caritasverbandes für die Diözese Limburg e. V. finden Sie unter Stellungnahmen.