Yvonne Spang aus Kadenbach, Teilnehmerin des Berufsbildungsbereiches der Caritas-Werkstätten Westerwald-Rhein-Lahn, arbeitet zu Hause am häuslichen Auftrag zum Thema Arbeiten nach Anleitung.Caritasverband Westerwald-Rhein-Lahn e.V.
Fernunterricht, Klausuren online schreiben und Hausaufgabenabfrage per Videokonferenz. In Zeiten von Corona ist alles etwas anders. Doch nicht nur Schüler, Eltern und Personal in Schulen waren und sind durch die Schließung von Bildungsstätten und Maßnahmen zum Infektionsschutz gefordert. Auch die Mitarbeiter und Beschäftigten der Caritas-Werkstätten Westerwald-Rhein-Lahn wurden sehr plötzlich vor neue Herausforderungen gestellt. Dies gilt nicht nur für die Werkstätten selbst, sondern auch für den werkstattzugehörigen Zentralen Berufsbildungsbereich.
Menschen mit Behinderung die Teilhabe am Arbeitsleben zu ermöglichen, ist das primäre Ziel der Caritas-Werkstätten Westerwald-Rhein-Lahn. Dies gilt für Menschen mit geistiger Behinderung ebenso, wie für Menschen mit körperlichen und seelischen Beeinträchtigungen. Derzeit arbeiten rund 650 Werkstatt-Beschäftigte in den acht verschiedenen Betrieben in Montabaur, Lahnstein, Nauort, Niederelbert, Rotenhain und St. Goarshausen sowie im CAP-Lebensmittelmarkt in Hundsangen.
Am Anfang der beruflichen Qualifizierung steht zumeist die Teilnahme am dreimonatigen Eingangsverfahren und am anschließenden ein- bis zweijährigen Berufsbildungsbereich in den Caritas-Werkstätten. Während dieser "Ausbildungszeit" steht der Erwerb und die Erweiterung beruflicher und persönlicher Kompetenzen im Mittelpunkt. Dabei erfolgt die berufliche Qualifizierung in der Regel sowohl direkt am Arbeitsplatz in den Betrieben der Caritas-Werkstätten, als auch im Rahmen von Schulungen im werkstattzugehörigen Zentralen Berufsbildungsbereich am Standort Montabaur. Bildungsbegleiter koordinieren die einzelnen Maßnahmen und stehen den Teilnehmerinnen und Teilnehmern als Ansprechpartner zur Verfügung.
Als im März der bundesweite Lockdown ausgerufen wurde und die Corona-Bekämpfungsverordnung des Landes Rheinland-Pfalz, die Beschäftigung und Betreuung von Menschen mit Behinderung in Werkstätten sowie die "Wahrnehmung von Angeboten öffentlicher und privater Bildungseinrichtungen im außerschulischen Bereich" untersagte, waren davon auch die mehr als 70 Teilnehmerinnen und Teilnehmer im Berufsbildungsbereich der Caritas-Werkstätten Westerwald-Rhein-Lahn betroffen.
"Von heute auf morgen waren wir und auch die Teilnehmer vor eine große Herausforderung gestellt. Wir mussten schnell reagieren, um die neuartige Situation zu meistern und unter veränderten Bedingungen eine passgenaue berufliche Qualifizierung zu realisieren", berichtet Tanja Sprünker-Eraerds, Leiterin des Kompetenzzentrums Berufliche Qualifizierung und Integration in den Caritas-Werkstätten Westerwald-Rhein-Lahn. In kürzester Zeit entwickelten die Verantwortlichen daher ein Konzept zur beruflichen Qualifizierung von Teilnehmern während der Werkstattschließung durch die Corona-Krise.
Dabei galt es vor allem die unterschiedlichen Lebens- und Lernsituationen zu berücksichtigen und diesen Rechnung zu tragen. Es wurden verschiedene Formate überprüft, um zu klären, auf welche Weise die Berufliche Bildung auch zu Hause zielführend angeboten werden kann.
Während eine Vielzahl der Bildungsträger auf den Einsatz digitaler Angebote zurückgreifen um Lernmaterialien bereitzustellen, wählten die Verantwortlichen in den Caritas-Werkstätten Westerwald-Rhein-Lahn einen anderen Weg. Zum einen, weil nicht jeder Haushalt mit entsprechenden digitalen Geräten ausgestattet ist und zum anderen, weil die digitalen Kompetenzen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer höchst unterschiedlich sind. Selbst das Ausdrucken von online bereitgestellen Bildungsmaterialien stellt oft eine Hürde dar, denn nicht jede Familie verfügt über einen Drucker. "Auch die Fähigkeit zur zeitlichen Strukturierung selbstgesteuerter Lernprozesse, die Interessen sowie die Lese- und Schreibkompetenzen der Teilnehmer sind sehr unterschiedlich", sagt Sprünker-Eraerds.
Die Caritas-Werkstätten Westerwald-Rhein-Lahn entschieden sich aus diesen Gründen für eine Kombination aus theoretischen und praktischen Lernmaterialien in drei verschiedenen Schwierigkeitsgraden, welche den Teilnehmern wöchentlich zur dirketen Verwendung zur Verfügung gestellt werden sollten.
Nach dieser Entscheidung begann das Team des Kompetenzzentrums Berufliche Qualifizierung und Integration in beeindruckender Geschwindigkeit mit der Entwicklung spezieller Bildungsmaterialien, die den Teilnehmern selbstgesteuertes Lernen im häuslichen Umfeld ermöglichen. So wurden beispielsweise theoretische und praktische Aufgaben zu den Themen "Gesundheits- und Arbeitsschutz", "Umweltschutz", "Werkzeug-, Maschinen- und Gerätekunde" sowie "Arbeiten nach Anleitung" verfasst. Die drei Schwierigkeitsstufen ermöglichen den Teilnehmern größtmögliche Selbstständigkeit bei der Erarbeitung der Inhalte des Berufsbildungsbereichs. "Das Verfassen von Texten in Leichter Sprache sowie die Verwendung von Bildern und Piktogrammen ist dabei ebenso wichtig, wie der kontinuierliche Bezug zu den relevanten Themen am echten Arbeitsplatz. Auf diese Weise gelingt es, die Motivation der Teilnehmer zu nutzen und ihnen ein Stück ‚Arbeitsplatz‘ nach Hause zu bringen", erklärt Jana Müller. Gemeinsam mit Dagmar Theis koordinierte sie die Erstellung und Auslieferung der Bildungsmaterialien. "Insbesondere die praktischen Aufgaben, wie Sortierarbeiten, Montagetätigkeiten oder der Zusammenbau eines Insektenhotels trainieren vielfältige Kompetenzen", ergänzt Theis. Dabei erhielten die Teilnehmer neben einer ausführlichen Anleitung und dem Arbeitsmaterial auch die benötigten Werkzeuge, um die Aufgaben entsprechend zu erledigen. Um die fast 70 Teilnehmer des Berufsbildungsbereichs, verteilt auf die beiden Landkreise Westerwald und Rhein-Lahn, mit den entsprechenden Lernmaterialien und Aufträgen zu versorgen, war ein hoher logistischer Aufwand nötig. Während theoretische Arbeitsaufträge noch per Post verschickt werden konnten, wurden die benötigten Materialien für die praktischen Aufgaben jede Woche von den Bildungsbegleitern persönlich ausgeliefert.
Das Allerwichtigste während der vorübergehenden Schließung des Berufsbildungsbereichs sei jedoch der persönliche und regelmäßige telefonische Kontakt zu den Teilnehmerinnen und Teilnehmern sowie deren Angehörigen und Betreuern gewesen. "Wir alle wissen, wie schwer es war und ist sich mit den Veränderungen im Zuge der Pandemie zu arrangieren. Für die Teilnehmer hat sich die gesamte Tagesstruktur plötzlich völlig verändert und das für Personen, die häufig ein hohes Maß an Kontinuität benötigen. Zur Bewältigung der völlig neuen Herausforderungen waren vor allem die unterstützenden Gespräche und die Aufrechterhaltung der persönlichen Beziehungen von Bedeutung", erklärt Jana Müller.
Mittlerweile besuchen einige der Teilnehmer aus dem Berufsbildungsbereich schon wieder die Werkstätten, die ihren Betrieb nach dem Lockdown bereits wieder augenommen haben. Die Schulungen des Zentralen Berufsbildungsbereiches erfolgen allerdings noch nicht wieder zentral in Montabaur, sondern individuell in den einzelnen Betrieben. "So vermeiden wir den Kontakt unter verschiedenen Standorten", erklärt Tanja Sprünker-Eraerds.
Für Teilnehmer, die zur Risikogruppe für einen schweren COVID-19 Verlauf gehören, ist der Werkstattbesuch aktuell noch freiwillig. Wer sich für die alternative Form der Maßnahme entscheidet, bekommt die Aufträge weiterhin nach Hause geliefert. So wie Holger Ernst, der eigentlich bei MoDiTec in Lahnstein arbeitet. Er ist aufgrund einer Vorerkrankung derzeit noch nicht an seinen angestammten Arbeitsplatz zurückgekehrt: "Ich finde es gut, dass wir Arbeitsaufträge nach Hause bekommen. So hat man auch in der langen Pause etwas zu tun und kommt nicht aus der Übung", freut sich Ernst und fügt hinzu: "Einige der Aufträge kenne ich auch aus dem Arbeits-Alltag." Überhaupt ernteten die Verantwortlichen bislang viel Lob für das Konzept: "Die Rückmeldungen, die wir erhalten, sind sehr positiv - vonseiten der Teilnehmer wie auch der Angehörigen", so Laura Witschurke, Bildungsbegleiterin und Ansprechpartnerin für viele Teilnehmer im Berufsbildungsbereich.
Die Lernmaterialien kommen möglicherweise bald auch nicht nur den Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Berufsbildungsbereiches der Caritas-Werkstätten Westerwald-Rhein-Lahn zugute: "Derzeit gibt es Überlegungen, die speziell entwickelten Materialen auch der Fachöffentlichkeit zur Verfügung zu stellen, damit noch mehr Menschen mit Behinderung davon profitieren können", so Jana Müller abschließend.